Kammerchor Stuttgart
Jul 4, 2026
St. Lorenz - ION Nürnberg (D)
Kammerchor Stuttgart
Klassische Philharmonie Stuttgart
Mendelssohn - Paulus
Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass Oratorium Paulus, größtenteils auf der Apostelgeschichte basiert und den Wandel des Saulus von Tarsus zum frühchristlichen Missionar Paulus zum Thema hat, zu Mendelssohns Lebzeiten sein beliebtestes Werk war. Zwischen 1834 und 1836 komponiert und am 22. Mai 1836 (Pfingsten) in Düsseldorf uraufgeführt, wurde dem Oratorium anfänglich ein Beifall zuteil, wie er in der Musikgeschichte seinesgleichen sucht.
Als Mendelssohn das Werk in England beim Birmingham Musical Festival 1837 dirigierte, wurde es mit den unvergänglichen Händel-Oratorien verglichen. Als Mendelssohn 1839 Paulus in Braunschweig dirigierte, betonte H. F. Chorley, dass „es wenig moderne Musik gibt, die mit jedem neuen Hören so viel gewinnt, wie Paulus“. Mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts jedoch häuften sich die negativen Eindrücke. Hatte Wagner nach einer Aufführung des Oratoriums durch Mendelssohn am Palmsonntag 1843 dieses noch als ein klassisches Meisterwerk gepriesen, so fanden später virulent rassistische Züge in seine Schriften Eingang, und er warf Mendelssohn, dem Spross einer bedeutenden jüdischen Familie, vor, in seiner geistlichen Musik die Bachsche Tiefgründigkeit zu imitieren. Und 1889 verwarf George Bernard Shaw in Reaktion auf das Bild Mendelssohns als eines viktorianischen Gentlemans die „verachtenswerte Oratorienmacherei“ sowie die „spröden“ Fugen des Paulus. So schwang das Pendel von einem Extrem ins andere.
Obwohl Mendelssohn (1809–1847) bei der Uraufführung des Oratoriums erst 27 Jahre alt war, wurde er in manchen Kreisen als ein Komponist angesehen, der die traditionellen musikalischen Werte gegenüber den Angriffen der Kommerzialisierung eines Übels, das Robert Schumann damals als Philistertum verurteilte – verteidigen und neu beleben wollte. Mendelssohns Rolle als Bewahrer musikalischer Vorbilder entsprach dem Konservatismus des frühen Viktorianischen Zeitalters in England und der Zeit der Restauration in den deutschen Fürstentümern nach dem Sturz Napoleons. In England wurde Paulus als würdiger Nachfolger der erbaulichen Oratorien Händels angesehen; in Deutschland, wo Mendelssohn 1829 die Wiederaufführung der Matthäuspassion betrieben und dadurch die moderne Bach-Renaissance eingeleitet hatte, schien Paulus eine Erneuerung der in hohem Grade kunstvollen und komplexen geistlichen Musik Bachs in einem geeigneten modernen Gewand zu bieten. Fast das ganze Jahrhundert hindurch blieb Paulus ein Hauptbestandteil im Repertoire der aufkeimenden Oratoriengesellschaften.
Indem er die Gattung Oratorium aufgriff, betrieb Mendelssohn sicherlich musikalischen Historismus. Die Debatte um Paulus schien sich anfänglich besonders mit der Art dieses Historismus zu befassen. Für Heine waren die Ergebnisse nur „sklavische Kopien“ von Bach und Händel, während Paulus für Otto Jahn einen „wesentlichen Fortschritt in der geistlichen Musik“ darstellte. Doch die Tatsache, dass sich der Komponist des Oratoriums, und im Besonderen der Thematik des frühchristlichen Missionars Paulus, annahm, ist von direkter, persönlicher Bedeutung für ihn. Geboren als Felix Mendelssohn, Enkel von Moses Mendelssohn, des bedeutenden jüdischen Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wurde der Komponist im Alter von 7 Jahren lutherisch getauft, und an diesem Bekenntnis hielt er fest bis zu seinem Tod mit 38 Jahren im Jahr 1847. Die Schaffung des Oratoriums Paulus und dessen Botschaft von geistlicher Erweckung und Selbstfindung wurde so für den Komponisten zur Auseinandersetzung mit einem Stück Familiengeschichte.